Ein erstes, wichtiges Ergebnis der Arbeit der Kommission für Erinnerungskultur ist erzielt: Die Stadt benennt eine Straße nach einem Widerstandskämpfer statt nach einem NSDAP-Funktionär. Im Jahr 2020 beschloss der Kemptener Stadtrat die Umbenennung der Knussertstraße. Während des Nationalsozialismus war Richard Knussert Mitglied der NSDAP und als Funktionär in leitender Position tätig gewesen. Seither wurden durch Politik, Verwaltung und zivilgesellschaftliche Initiativen Vorschläge zur Umbenennung eingereicht sowie öffentlich formuliert. Die Kommission für Erinnerungskultur erarbeitete basierend auf den „Handreichungen“ des Deutschen Städtetags von 2021 einen auf Kempten abgestimmten Kriterienkatalog für künftige Straßenbenennungen. Als Prämisse wurde die Repräsentation der Vielfalt und Pluralität der Gesellschaft gesetzt. Als entscheidendes Kriterium für die Benennung von Straßen nach Personen führt der Kemptener Katalog den Vorbildcharakter der Person in Bezug auf Gemeinwohl, Demokratie und Rechtsstaat sowie herausragendes soziales, wissenschaftliches oder kulturelles Engagement an und benennt auch explizit die Möglichkeit der Benennung von Straßen nach Opfern von Gewalt oder nach Widerstandskämpfer. Auf dieser Grundlage hat die Kommission für Erinnerungskultur dem Stadtrat die Empfehlung gegeben, im Rahmen der Umbenennung der Knussertstraße, künftig Franz Sperr mit einem Straßennamen zu ehren. Franz Sperr (1878-1945) gehörte zum Kern einer bürgerlichen Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten. Dieser Empfehlung folgte der Kemptener Stadtrat und beschloss die Umbenennung der Straße in seiner Sitzung am 29. September 2022 mehrheitlich. „Das Konzept der interdisziplinär besetzten Kommission hat der Stadt Kempten bereits große Dienste erwiesen, die Empfehlungen sind durchdacht und konnten von mir und vom Stadtrat direkt mitgetragen werden“, so Oberbürgermeister Thomas Kiechle nach der Beschlussfassung. Bei der Entscheidungsfindung spielte neben den deutlichen Verdiensten von Franz Sperr auch deren Nachweisbarkeit durch die sehr gute Forschungslage zu seiner Biographie eine Rolle. Aus dem gleichen bürgerlichen Milieu wie Richard Knussert stammend stellt Franz Sperr mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus den Gegenentwurf zu Richard Knusserts Unterstützung des Regimes dar.
Der Widerstandskämpfer Franz Sperr
Franz Sperr besuchte, wie später auch der Widerstandkämpfer Alfred Kranzfelder, das Humanistische Gymnasium in Kempten (heute Carl-von-Linde-Gymnasium). Sperr war zunächst bayerischer Offizier im Generalstab und vertrat danach bis 1934 als offizieller Gesandter die bayerischen Interessen in Berlin. Als überzeugter Gegner des Nationalsozialismus und aus seinem föderalistischen Verfassungsverständnis heraus legte er am 20. Juni 1934 wegen der Zerschlagung des föderalen Systems durch die Nationalsozialisten sein Amt nieder, schied auf eigenen Wunsch aus dem Staatsdienst aus, wurde in München Unternehmer und ging in den Widerstand. Zum Sperr-Kreis gehörten vor allem Bankiers und Geschäftsleute. Diese bürgerliche Prägung unterscheidet den „Sperr-Kreis“ von anderen Widerstandskreisen. Bald nach seiner Rückkehr nach München trat Sperr in engeren Kontakt mit Kronprinz Rupprecht von Bayern, der für einen Kreis NS-kritischer bayerischer Patrioten als Symbol für Widerstandsaktivitäten galt. 1942 knüpfte er auch Kontakte zum Kreisauer Kreis. Idee und Vorbereitung des Anschlags vom 20. Juli 1944 stand er aber auch nach einem Treffen mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg skeptisch gegenüber. Nach aktuellem Forschungsstand wurde Sperr die bloße Mitwisserschaft am Attentat zum Verhängnis – im Schauprozess wurde ihm vorgeworfen, die konspirativen Gespräche nicht gemeldet zu haben. Franz Sperr wurde 1945 in Plötzensee ermordet. Alle Informationen zur Erinnerungskultur finden sie hier.
Bild: Ralf Lienert