Lindau (Bodensee) – Eigentlich sollte sie an Weihnachten wieder zu Hause sein.
Doch das war den Gläubigen in Simmerberg im Jahr 1935 nicht vergönnt.
Vielmehr mussten sie das Fest Christi Geburt ohne ihre frühgotische „Thronende
Madonna mit Kind“ feiern. Das Heimatkundliche Dokumentationszentrum ist
ihren Spuren gefolgt. Schon jetzt wird verraten: Unsere Weihnachtsgeschichte
geht gut aus.
Sie thront in edlem Gewand gemeinsam mit ihrem Kind in der Pfarrkirche St. Josef auf
einem Seitenaltar. Eine quadratische Brosche hält den Umhang der Gottesmutter
zusammen. Über ihrem Schleier, dessen Ränder kunstvoll verziert sind, trägt sie eine
goldene Krone, in der rechten Hand ein goldenes Zepter, das königliche Zeichen der
Macht. Mit ihrer linken Hand stützt die Muttergottes den Kopf des Knaben, der mit
nacktem Oberkörper zu ihrer Linken steht. Ein Tuch bedeckt seine Hüften. Seinen rechten Fuß hat Jesus auf dem Bein seiner Mutter aufgestellt. Mit der rechten Hand umgreift er das linke Schleierende seiner Mutter, in der linken Hand hält der Junge einen Vogel, wohl einen Sperling. Auch er trägt eine goldene Krone. Beide schauen sich an, auf Augenhöhe. Eine ganz besondere Ausstrahlung geht von Maria und Kind aus: Nähe, Vertrautheit, innige Liebe.
Gute und schlechte Zeiten hat die Muttergottes mit ihrem Knaben über die vielen
Jahrhunderte er- und überlebt – offenbar mit einer stoischen Gleichmut. „Die Madonna ist für unsere Region ein herausragendes Beispiel für die frühgotische Skulptur, die in der Zeit zwischen 1250 und 1350 und von ihrem Typus verwandt ist mit Statuen jener Zeit, die vor allem um Paris herum entstanden sind“, sagt Dekan Dr. Ralf Gührer. Die
Simmerberger Skulptur ist 128 Zentimeter hoch, 75 Zentimeter breit und 50 Zentimeter tief. Nur wenige Steinfiguren dieser Art aus der Gotik sind erhalten geblieben.
Doch wie kommt ein Kunstwerk, das einer Kathedrale würdig ist, in die kleine
Westallgäuer Dorfkirche? Einem Stich aus dem 18. Jahrhundert sowie Mehrerauer Siegeln im Lindauer Museum zufolge war die „Thronende Madonna mit Kind“ das alte Gnadenbild in der ehemals mächtigen Benediktinerabtei Mehrerau. Für Dekan Dr. Ralf Gührer ist das schlüssig. „Die Abtei wurde im Jahr 1095 vom Bregenzer Grafen Ulrich X. gegründet und war damals von Mönchen aus dem Kloster Petershausen bei Konstanz besiedelt. Der Heilige Bischof Gebhard, ein Verwandter von Graf Ulrich, hatte die Abtei Petershausen 983 gegründet und reich beschenkt.
Auch in der Konstanzer Kathedrale gab es zur Entstehungszeit der Simmerberger
Madonna Bauarbeiten mit hochwertigen und heute noch erhaltenen Steinskulpturen. Die Mauritiusrotunde bekam damals ein neues Heiliges Grab. Auch dort wurde Stein für den Innenbereich gewählt.“
Nach dem Frieden von Pressburg fiel Vorarlberg an die Bayern. Den Recherchen Dr. Georg Wagners (1918 – 2003) zufolge, Heimatforscher und der einzige Ehrenbürger des Marktes Simmerberg, war Dr. Anton Schneider Generalkommissar des Landes Vorarlberg und Befehlshaber der aufständischen Truppen. Der Mann, der aus Untertrogen, Pfarrei Weiler, gebürtig war, hatte das Kloster mit Hilfe von Schmiergeldzahlungen für einen sehr geringen Preis zum Abbruch erworben – darüber gibt es Gerichtsakten. Bevor es dazu kam, war es Sitz der Bayerischen Verwaltung. Als der Großteil von Kirche und Kloster – den Bestimmungen der Säkularisation entsprechend – abgebrochen und verkauft wurde, schiffte man beispielsweise die großen Steine der Mehrerau über den Bodensee nach Lindau, wo sie für den Bau des Hafens verwendet wurden.
Laut Wagner spreche „vieles dafür“, dass in den Jahren 1804 bis 1810 die „Thronende
Madonna“ aus dem Kloster Mehrerau in die neue Kirche nach Simmerberg gebracht wurde – der Baubeginn von St. Josef als Nachfolgebau der Kapelle von 1665 wird auf 1804 datiert. Gut denkbar sei, dass Dr. Schneider, dem sein Vorgehen den Vorwurf der
Kirchenschändung eingebracht habe, „die Verbringung der Madonna in seine Heimatgemeinde als einen Akt der Wiedergutmachung ansah (…)“. Wagner: „Für die
Richtigkeit dieser Annahme spricht auch eine Rechnung des Fassmalers Heim von
Simmerberg von 1805, in welcher dieser eine Neufassung der Vergoldungen an der
Großen Madonna in Rechnung stellte“.
Allzu lange währte die Ruhe um und für sie nicht. „Fast wäre diese großartige Skulptur für die Orgelbeschaffung (…) verkauft worden“, heißt es im „Heimatbuch Weiler im Allgäu Simmerberg Ellhofen“.
1935 dann die „Wende“, wie Unterlagen im Bayerischen Landesamt für Denkmalschutz in München belegen: In einem Schreiben vom 18. Mai kündigt die Behörde an, dass ein
Experte nach Simmerberg kommen wird, „um die Untersuchung an dem Steinbild
vorzunehmen“. Mit Kosten von bis zu 25 Reichsmark rechnet die Katholische
Kirchenverwaltung Simmerberg. Das Ergebnis der Freilegungsproben: „Unter zwei Farbschichten zeige sich die alte Fassung.“ Bereits am 24. Juli 1935 bestätigt das
Bayerische Landesamt für Denkmalpflege, dass es „eine frühgotische Madonna mit Kind erhalten“ und dieselbe „nach kostenloser Freilegung von späteren Bemalungen in ihrer ursprünglichen Fassung bis Weihnachten dieses Jahres an die Kirche Simmerberg
zurückgeben“ wird.
Am 30. November desselben Jahres ergeht innerhalb des Amtes die Order, wonach die
Figur „beschleunigt fertig zu stellen“ ist. Trotzdem muss die fertig restaurierte „Thronende Madonna mit Kind“ über Weihnachten im Landesamt für Denkmalschutz ausharren: Die Schneeverhältnisse machen vor Weihnachten offenbar einen „möglichst günstigen“ Transport mit dem neuen Lastwagen der Aktienbrauerei Simmerberg unmöglich – dieser, betont das Amt, gehe auf alleinige Verantwortung der Katholischen Kirchenverwaltung Simmerberg.
Erst am 21. Januar 1936 frohlockt Pfarrer Franz X. Mayer: „Wieder im Besitz unserer
gotischen Madonna beehren wir uns, dem Landesamt für Denkmalpflege den herzlichsten Dank der ganzen Pfarrgemeinde Simmerberg für die Freilegung der Statue
auszusprechen“, schreibt er in einem Brief nach München. 60 Reichsmark überweist die Kirchenverwaltung an das Amt. Die lokale Presse schweigt sich sowohl über die Abholung als auch über die Heimkehr der Sandstein-Skulptur aus.
36 Jahre später will der Freistaat Bayern der „Thronenden Madonna mit Kind“ Tribut
zollen: Sie ist für die Ausstellung „Bayern, Kunst und Kultur“ in der Liste der
auszustellenden Kunstwerke aufgenommen. Doch der Ausstellungs-Kurator wird
enttäuscht: „Nach Lage der Dinge bitten wir Sie, die Madonna aus Simmerberg von der Liste der auszustellenden Kunstwerke zu streichen. Jeder Versuch, die festzementierte Figur vom Sockel zu lösen, dürfte irreparable Schäden zur Folge haben; wir weisen in diesem Zusammenhang auf die Feinkörnigkeit des Sandsteins hin, der ein Absprengen der Figur vom Sockel unmöglich macht. Die zu bedauernde Befestigung mit Zement macht die thronende Madonna aus Simmerberg transportunfähig“, schreibt Generalkonservator Dr. T. Gebhard.
Im Oktober 1992 wird die „Thronende Madonna mit Kind“ vom Landesamt für
Denkmalschutz erneut untersucht. „Die Skulptur befindet sich allgemein in einem sehr
stabilen Zustand. Es waren nur Pflegemaßnahmen durchzuführen (…) Die rechte Hand ist im Bereich von Zeige-, Mittel- und Ringfinger gebrochen und nicht passgenau geklebt. Der überschüssige Klebstoff wurde mit Aceton sowie mit dem Skalpell abgenommen. Eine stärkere Oberflächenreinigung würde die unterschiedlichen Fassungen (Freilegung 1935) stärker in Erscheinung treten lassen und den Gesamteindruck stören“, steht in dem Bericht der Experten geschrieben.
„Der Typus der Madonnen mit Kind, die sich fest anschauen, ist ganz besonders häufig in der Zeit zwischen 1250 und 1350 und besonders häufig zwischen den Metropolen Paris und Köln zu finden“, berichtet Dekan Dr. Ralf Gührer. Monumentalstatuen hätten sich allerdings kaum erhalten. „In Süddeutschland finden sich in Nürnberg in St. Lorenz und in der Spitalmadonna im Residenzschluss Mergentheim Beispiele dafür.“
Kleinplastiken dagegen gibt es noch viele aus dieser Zeit. Allein das Metropolitan Museum in New York hat eine ganze Serie an Beispiele aus Elfenbein im Katalog und ebenso natürlich der Louvre in Paris. Dekan Ralf Gührer: „Dass der Bodensee und die Abtei Mehrerau im 13. Jahrhundert spirituell und künstlerisch durchaus auf der Höhe der Zeit waren, beweist die Madonna, die heute fast unscheinbar in der kleinen Westallgäuer Dorfkirche in Simmerberg weilt.“
Bild: BLfD/Joseph Auer 1935