Die Belegung der Unterkunft für insgesamt 440 männliche Geflüchtete verschiedener Nationen startet Ende September
„Mir ist bewusst, dass diese Entscheidung bei vielen Bürgerinnen und Bürgern für Unverständnis und Kopfschütteln sorgen wird, aber wir haben inzwischen einfach keine besseren Alternativen“, Landrat Martin Sailer ist selbst nicht glücklich über das, was er gerade verkündet: Der Landkreis wird ein Hotel im Güterverkehrszentrum in Gersthofen zeitlich befristet als dezentrale Flüchtlingsunterkunft nutzen. Bis zu 440 Männer – voraussichtlich aus Ländern mit hoher Anerkennungsquote – sollen hier künftig untergebracht werden. Mit 66 Personen wird Ende September mit der Belegung begonnen, vermutlich Mitte Dezember wird das Hotel voll belegt sein. Was für manche im ersten Moment nach Urlaub klingen mag, ist in Wahrheit eine Belastungsprobe: für die Kommune, für die für die Betreuung zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und insbesondere für die künftigen Bewohner. Diese werden, unabhängig davon, ob sie sich kennen oder nicht, auf engstem Raum in Zweibettzimmern zusammenleben, deren Ausstattung an die allgemeinen Standards der Flüchtlingsunterbringungen im Landkreis angepasst wird. Für die Reinigung ihrer Zimmer sind sie selbst verantwortlich. Überdies haben sie keine Möglichkeit, selbst zu kochen, sondern erhalten zu vorgegebenen Essenszeiten nicht wählbare, einfache Verpflegung, die lediglich an ihre religiösen Bedürfnisse angepasst ist.
Man sorge nur noch für das Nötigste – ein Dach über dem Kopf
Um das bei einer Unterkunft dieser Größenordnung zu erwartende Konfliktpotenzial einzudämmen, finden vor der Belegung Gespräche mit dem Polizeipräsidium Schwaben-Nord und der zuständigen Polizeiinspektion statt, mit dem Ziel, ein Sicherheitskonzept zu erarbeiten. „Leider geht es bei uns schon längst nicht mehr um adäquate Unterbringung und Integration. Wenn wir ehrlich sind, sorgen wir doch nur noch für das Nötigste: ein Dach über dem Kopf, damit die Geflüchteten nicht auf der Straße leben müssen. Dabei kann den Satz ‚Wir haben die Belastungsgrenze erreicht‘ eigentlich niemand mehr hören, weil er so oft gesagt wurde, unabhängig davon, dass er von unserer Bundesregierung augenscheinlich überhaupt nicht ernst genommen wird. Denn obwohl wir seit Monaten warnen, verändert sich nichts und Deutschland ist von gesteuerter, gezielter Einwanderung und Integration weiter entfernt denn je“, fasst es der Landrat nüchtern zusammen. Trotz allem werde man versuchen, vor Ort in Gersthofen bestmöglich zu unterstützen und parallel alternative Unterbringungsmöglichkeiten suchen. Allerdings müsse man dabei auch realistisch bleiben – der Wohnungsmarkt sei wie leergefegt und mit jeder Woche steige die Zahl derer, die im Landkreis von Gesetzes wegen aufgenommen werden müssen.
Alternative wären Schullandheim oder Schulturnhallen gewesen
In Gersthofen sind schon jetzt 375 Geflüchtete untergebracht – die privat untergekommenen Ukrainerinnen und Ukrainer nicht eingerechnet. Dass die neue Großunterkunft allen Beteiligten vor Ort viel abverlangen wird, ist auch deshalb von vorne herein klar. Doch hätte man die Beherbergung in dem Hotel nicht organisiert, wäre es umgehend zur Schließung des Schullandheims in Dinkelscherben und in einigen Wochen zur längerfristigen Belegung von Schulturnhallen gekommen. „Uns stehen einfach keine Plätze mehr zur Verfügung, weshalb wir zu dieser Entscheidung – die sich nicht gegen die Bürgerinnen und Bürger in Gersthofen richtet, sondern für unsere Kinder, Schulfamilien und Vereine getroffen wurde – gezwungen waren“, bittet Sailer um Verständnis.
Landrat Martin Sailer: „Bund und EU haben aus 2015 überhaupt nichts gelernt“
Es macht den Landrat wütend und fassungslos, dass die Bundesregierung die Alarmsignale aus ganz Deutschland bislang scheinbar konsequent ignoriert. Für die Frustration vieler Bürgerinnen und Bürger habe er inzwischen viel Verständnis. „Der Zustrom muss nachlassen, wir platzen aus allen Nähten, das sprichwörtliche Boot ist voll“, so der Landrat. Die Unterbringung von Geflüchteten laufe im Grunde noch genauso ab wie im Jahr 2015: „Bund und EU haben aus 2015 offensichtlich überhaupt nichts gelernt. Der Staat muss das Ruder in die Hand nehmen, statt sich nur auf die Belastbarkeit und Leidensfähigkeit seiner Kommunen zu verlassen“, fordert Sailer. Aktuell sind in den Landkreiskommunen 2.600 Geflüchtete, hauptsächlich aus Afghanistan, dem Irak, der Türkei und Syrien, in 72 Unterkünften untergebracht. Hinzu kommen rund 2.000 Geflüchtete aus der Ukraine, die eine private Wohnmöglichkeit gefunden haben. „Allein seit Beginn des Jahres 2023 wurden uns 892 geflüchtete Personen neu zugewiesen und jede Woche müssen wir aufs Neue mit der Ankunft von 20 bis 30 weiteren Geflüchteten rechnen. In unseren Flüchtlingsunterbringungen sind heute 487 Bewohnerinnen und Bewohner mehr als noch zu Jahresbeginn. Zeitgleich finden Geflüchtete, die unsere Unterkünfte eigentlich verlassen dürften, keinen eigenen Wohnraum und bleiben deshalb weiter bei uns. Dass diese Rechnung auf Dauer nicht aufgehen kann, sollte jedem klar sein.“ Doch es sei nicht nur die angespannte Unterbringungssituation, es fehle auch an Betreuungsplätzen, ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, Sprachkursen und vielem mehr. „Mein Landratskollege aus dem Unterallgäu, Alex Eder, hat sich kürzlich aus der Not heraus in einem sechsseitigen offenen Brief an unseren Bundeskanzler Olaf Scholz gewandt, mit dem dringenden Appell und der Bitte, bundespolitisch umzudenken. Seinen Forderungen schließe ich mich zu 100 Prozent an. Der Bund muss endlich handeln und die Not der Kommunen ernst nehmen. Und wir müssen vor allem endlich auf allen Ebenen schonungslos über dieses gigantische Problem sprechen, ohne kritische Stimmen reflexartig als ausländerfeindlich abzutun.“
Bild: Julia Pietsch